Wie weiter

«Wenn du bei dieser Lehrerin während einer Lernkontrolle aufs Blatt deines Nachbarn schielst, reisst sie dir das Blatt weg und schickt dich sofort vor die Tür.» sprachlos lausche ich dieser Schilderung eines Erstklässlers.

 

Vieles geht mir durch den Kopf: Zweitklässler, die zwei Tage vor den Weihnachtsferien noch eine angekündigte Lernkontrolle schreiben müssen, Schülern wird vorgeschrieben mit welchem Schreibgerät sie zu schreiben haben und wehe die Buchstaben sind nicht perfekt schön geschrieben, denn leserlich reicht nicht; bei Bildern werden neben dem Motiv auch Farben und Materialien vorgegeben – das nennen wir dann kreatives Arbeiten-  und wenn Jugendliche für den Klimaschutz streiken wird als Reaktion mit unentschuldigten Absenzen gedroht – was sie uns mitzuteilen suchen, interessiert nicht. Und ich frage mich, was für eine Welt wir eigentlich geschaffen haben.

 

Seien es Eltern, Lehrer, Vorgesetzte oder der Partner – wir empfinden es normal, dass gewisse Menschen Macht über andere haben. Wir sind damit befasst, dass unsere Vorgaben strikt erfüllt und Regeln beachtet werden und vergessen dabei, darauf zu achten warum ein Mensch etwas tut, ein bestimmtes Verhalten zeigt. Wie ist es dazu gekommen, dass wir lieber urteilen, als hinzusehen, hinzuhören und zu verstehen suchen? Warum fällt es uns so schwer, uns wirklich für unser Gegenüber zu interessieren, uns einzufühlen? Wo haben wir unsere Würde gelassen?

 

Sicherlich, Vieles lässt sich erklären durch die Geschichte, die Art und Weise wie wir gelebt haben und wie die Umstände waren, wie wir und unsere Eltern gross wurden, was geprägt und seine Spuren hinterlassen hat. Dennoch bleiben meine Fragen bestehen. Die Zeit aufzuwachen und hinzusehen ist längst gekommen. Die Geschichte hat uns klar gezeigt zu welchen unvorstellbaren Gräueltaten blinder Gehorsam führen kann. Wir wissen wie schädlich Machtausübung, Drohen, Erpressen für den Menschen ist, welche Verletzungen dies zufügt. Und doch machen wir weiter genau in dem Trott, als Eltern, als Lehrer, als Vorgesetzte, als Freunde, als Nachbarn. Wir wissen, dass diese lieblose Art zu leben uns und unseren Lieben nicht gut tut, doch wir trösten uns beim nächsten Shopping Trip, während dem nächsten Luxusurlaub darüber hinweg und bringen damit die Stimme in unserem Innern, die schon lange zur Umkehr aufruft, zum Schweigen. Was ist also mit uns passiert? Und wie finden wir da wieder raus?

 

Ich denke es beginnt damit, dass wir täglich mal den Pausenknopf drücken und uns eine Zeit der Stille gönnen, sei es auch nur eine Minute, einfach mal wieder fühlen, spüren, sich berühren lassen. Und zulassen, dass wir ergriffen werden von dem was um uns herum passiert, es nicht wegdrängen. Die Fragen, die in uns auftauchen zulassen und Schritt für Schritt neu werden. Aushalten, dass wir die Antworten nicht kennen und darauf vertrauen, dass wir in sie hineinwachsen werden. An unseren Mitmenschen aufwachen, ihnen in Liebe, Achtung und Wertschätzung begegnen und so unsere eigene Würde wiederfinden. Und wissen, dass jede Handlung zählt und sei sie noch so klein. Wenn ich einem Kind völlig unvoreingenommen, urteilsfrei und offen zuhöre, ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke und es ernst nehme, ändert sich was. Wenn ich der alten Frau beim Einkaufen helfe oder nicht lache, wenn unangebrachte Witze über meine Arbeitskollegin gemacht werden, ändert sich was. Wenn ich den Mut entwickle «Nein» zu sagen, auch zum Chef, zum Lehrer meiner Kinder, zu meinem Partner, ändert sich was. Kleine Schritte auf einem Weg zu einem anderen Miteinander, das dieser Planet so dringend nötig hat und vom dem ich glauben will, dass es möglich ist – nicht erst in der Zukunft, sondern Jetzt.